In Teil 1 beschrieb ich, wie ich durch das Bewältigen meiner sozialen Phobie wieder handlungsfähig wurde. Dies bedeutet, dass ich meine angstbasierte Hemmung loswurde und sich in der Folge neue Perspektiven auftun konnten.
In diesem Teil spreche ich über den allerersten Angst- und Panikanfall in einer Alltags-Situation in der frühen Phase meines Berufslebens und die Bedeutung von Resilienz (Wikipedia: psychische Widerstandskraft; Fähigkeit, schwierige Lebenssituationen ohne anhaltende Beeinträchtigung zu überstehen) und deren Verlust.
Viel Spaß beim Lesen!
Bis Mitte 20 verlief mein Leben (vermeintlich) einigermaßen glatt und ohne gravierende Schicksalsschläge, die man als sogenannte „Life-Events“, also lebensverändernde Ereignisse beschreiben könnte.
Mein beruflicher Werdegang war zwar nicht durchgängig geradlinig, im Trend verlief jedoch dieser frühe Lebensabschnitt weitestgehend positiv. Die Ursachen der sozialen Phobie verstand ich erst viel später. Meine damalige Vulnerabilität (Anfälligkeit/Disposition), die das Aufkommen der Angst begünstigte und zusätzlich in biografischen Ereignissen begründet war, wurde allerdings durch das Eintauchen in ein intensives berufliches Umfeld zu einem der Faktoren des Ausbrechens der Symptome.
Was anfangs im Beruf aufregend und herausfordernd war, wurde nach einiger Zeit zur Routine und erlaubte ein Leben, das weitestgehend „unter Kontrolle“ war. Damit meine ich auch, dass es emotional weitestgehend balanciert verlief.
Gründe dafür waren, eine gewisse Verlässlichkeit der Aufgaben, ein gutes kollegiales Umfeld, motivierende Führungskräfte, die ich akzeptieren und menschlich schätzen konnte und ein ausgleichendes privates Leben. Rückblickend war es auch die hohe Eigenverantwortlichkeit, die mir das Unternehmen schon früh zutraute und die Selbstwirksamkeit im Handeln, die es mir ermöglichten, mit der Aufgabendichte umgehen zu können.
Der berufliche Druck wuchs konstant mit dem Erfolg des Unternehmens und die Aufgaben wurden komplexer und anspruchsvoller, aber sie waren lösbar, weil mein Team und ich über die notwendigen Kompetenzen und Bewältigungsstrategien verfügten. Auch waren die Verlässlichkeit, Integrität und Konsistenz der Entscheidungen der direkten Führungskräfte wichtige Positiv-Faktoren.
Viele komplizierte berufliche Vorgänge waren damals meist erklärbar und es wurde viel Hintergrundinformation kommuniziert, was ganz essenziell war für die Sinnbildung und das Sicherheitsgefühl im Beruf. Es bestand damals als Grundschwingung zumeist Optimismus und Verlässlichkeit über die Entwicklung der persönlichen Zukunft.
Zusammengefasst kann man dies als ein gewisses berufliches Urvertrauen bezeichnen. Auch der Stolz auf die Zugehörigkeit und Identifikation zu einem erfolgreichen und sympathischen Team und einer sehr erfolgreichen Gesamtunternehmung trugen dazu bei, dass durch das Wachstum der Firma ansteigende Stressniveau, gut kompensieren zu können.
Der Kipppunkt, der die soziale Phobie auslöste, war ein zusätzliches Entgleiten der privaten Situation in Kombination mit einem sich stark beschleunigenden beruflichen Takt nach dem Börsengang meines Arbeitgebers. Es ist ein gravierender Unterschied für die psychischen Widerstandskräfte eines Menschen, in welchem Milieu wir uns als Mensch und Arbeitnehmer befinden.
Ein Resilienz-förderndes Umfeld habe ich oben beschrieben. Ein Verlust der psychischen Widerstandskraft kann diverse Ursachen haben. Ein körperliches Leiden, ein Schicksalsschlag, private Lebensveränderungen, berufliche Veränderungen, gesellschaftliche Umwälzungen.
All diese Einflussgrößen verändern die Intensität und das Vorkommen von Sinnesreizen, die wiederum vom Gehirn verarbeitet und interpretiert werden müssen und dann zu Emotionen, Gedanken und verändertem Verhalten führen. Wir reagieren in diesen Situationen automatisch angepasst an die Anforderungen des jeweiligen Umfelds. Was ich erlebte, triggerte eine Symptomatik, die mit Abwehr und Schutz, sowie einem hohen Kontrollbedürfnis einherging.
Mit dem heutigen mir zur Verfügung stehenden Wissen waren die Symptome rückblickend absolut konsistent mit den sich verändernden Rahmenbedingungen und den zugrundeliegenden biografisch angelegten Reaktionsmustern, die sich in Angst, Panik und letztlich Vermeidungsverhalten äußerten.
Wie fühlte sich diese soziale Phobie an?
An einem ganz normalen Arbeitstag ging ich mit meinem Essenstablett in unsere Betriebskantine. Alles schien wie immer. Doch beim Bezahlvorgang bekam ich aus heiterem Himmel Panik und Angst vor meinem direkten Umfeld, sprich den Kollegen in der Mittagspausen-Situation.
Ich ließ mein Tablett stehen und eilte auf die Toilette und brauchte einige Minuten, um mich zu sammeln und danach den Kantinengang fortsetzen zu können. Mit Schweißausbrüchen, Angst, Schwindel und Herzrasen konnte ich diese Mahlzeit hinter mich bringen, fühlte mich von allen Seiten beobachtet und bewertet und mein einziger Gedanke war, es durchstehen zu können, ohne dass jemand etwas merkte. Nach ca. 30 Minuten bewegten wir uns vom Tisch zum Ausgang und dieser Akt war der schlimmste, mich zu erheben und den ganzen Saal unter den vermeintlich neugierigen, bewertenden Augen der Kollegen zurückzulegen bis zur Tablett-Rückgabe.
Völlig fertig verließ ich die Kantine und nach dem direkten Gang aus der Situation heraus normalisierte sich die Emotions-Welt wieder auf die bekannte Norm aber ab diesem Zeitpunkt war nichts mehr so, wie es einmal war.
Ich konnte mir das alles nicht erklären und ich sprach auch mit niemandem darüber. Ich hatte urplötzlich meine Resilienz verloren und ich fühlte absoluten Kontrollverlust in der Folge.
Ab jenem Tage dauerte es fast 20 Jahre, bis ich zu meinem alten Sicherheits-Gefühl in einer objektiv harmlosen Alltags-Situation zurückfand.
Warum schreibe ich das?
Ich finde es wichtig, dass Phobien und Ängste und der Verlust der Resilienz verständlich werden. Ich finde es noch wichtiger, dass wir über psychische Herausforderungen reden und uns unserem Umfeld offenbaren und uns Hilfe holen. Ich halte es für essenziell, in einer Welt, in der sich alles derart schnell und radikal verändert wie nie zuvor, das Gefühl der gesellschaftlichen Sicherheit zu behalten. Das Gefühl, eingebettet zu sein in ein Umfeld, das Hilfe und Verständnis bereitstellt, wenn wir diese Unterstützung brauchen.
Das von einem Tag auf den anderen alles anders sein kann und das ohne ersichtlichen und erklärlichen Grund ist ein kompliziertes Thema bei psychischen Herausforderungen.
Die Akzeptanz für die Existenz psychischer Spannungszustände muss größer werden.
Wir müssen uns darüber unterhalten und uns Hilfe suchen ohne Scham, Schuld und gesellschaftlich geprägter Komplexe. Der Gang zum Therapeuten oder Coach muss alltäglich akzeptabel sein. Es muss mehr dieser sicheren Räume geben, in denen die angestrebte Veränderung stattfinden kann.
Für das Aufrechterhalten der psychischen Resilienz sind viele Einflussgrößen verantwortlich. Resilienz ist absolut schützenswert. Sie ist erlernbar und erfordert das intensive Befassen mit der eigenen Persönlichkeit und Seele.
Es ist mit jedem Klienten, den ich in meiner Arbeit kennenlernen darf, immer wieder absolut berührend, die biografischen Ereignisse kennenzulernen, die den Menschen beeinflussen, prägen und letztlich zu dem machen, was er ist und die Symptome hervorrufen, unter denen gelitten wird.
Ohne die Kenntnis dieser Hintergründe, ist ursachenfokussierte Therapie- und Coaching-Arbeit nicht möglich.
Ich weiß nicht mehr wirklich, wem ich das Zitat zuschreiben muss aber der Satz, dass man als Therapeut und psychologischer Berater zwangsläufig zum Menschenfreund werden muss, ist nicht von der Hand zu weisen. In den Anamnese- und Analysegesprächen werden die Gründe für psychische Herausforderungen, verbunden mit dem Verlust der emotionalen Regulationsfähigkeit, erklärbar.
Ohne Erklärungsansätze für eine sich zeigende Symptomatik, haben wir keine Sicherheit.
Wir streben nach Erfüllung unserer Grundbedürfnisse.
Was sind Zustand und Disposition, die die Symptome fordern? Finden wir eine Kohärenz für das, was sich zeigt? Und was müssen wir verstehen und dann verändern, um zum Verlassen des unerwünschten Zustands fähig zu sein und damit Heilung oder Entwicklung erleben zu können?
In den nächsten Teilen geht es um das Leben mit der Symptomatik, Lösungsansätze und viele persönliche Erfahrungen, die ich machen durfte.
Ich freue mich über Dein Interesse.
Herzliche Grüße,
Michael Harms
NB: Ich verwende der Einfachheit halber keine genderorientierte Differenzierung, respektiere diese aber vollkommen. Ich greife aus reinen Zeitgründen zur konservativen Schreibweise. Es sei mir hoffentlich verziehen 😊
